„Des Menschen Willen ist sein Himmelreich“ sagt man landläufig, wenn man zwar die Wünsche einer anderen Person nicht ganz nachvollziehen kann, aber akzeptiert, dass sie den/die Betreffende/n eben selig machen. Dabei wird akzeptiert, dass
- die Vorstellungen, was eine Person als Wohl empfindet, persönlich sind, also eben gerade nicht einer allgemeinen Vernunft oder äußerlichen Bestimmbarkeit oder Überprüfbarkeit unterliegen
- das Wohl von dem Wollen der Person abhängt, um die es dabei geht und dieses Wollen prinzipiell unvorhersehbar ist, weil Menschen aus denselben Gründen das Unterschiedlichste, und aus den unterschiedlichsten Gründe dasselbe tun können.
Wohl zu bestimmen, ist also prinzipiell nicht von außen möglich, sondern nur individuell. Hingegen basiert das euphemistisch „Betreuungsrecht“ genannte Vormundschaftsrecht auf der paternalistisch/obrigkeitsstaatlichen Vorstellung von Bürgern als „Landeskindern“. Wie in dem Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern, soll dieses Verhältnis vom Staat zu seinen erwachsenen BürgerInnen dann gelten, wenn diese nicht in vorwegeilendem Gehorsam auch solche Normen erfüllen, die nicht durch die Strafgesetzgebung sanktioniert sind. Dieser Übergriff gegen die Freiheitsrechte des Einzelnen soll über ein angeblich stellvertretend psychiatrisch/richterlich bestimmbares Wohl des Einzelnen als „Fürsorge“ legitimiert und der Übergriff von staatlich monopolisierter Gewalt damit legalisiert werden können. Tatsächlich ist es jedoch die blanke Willkür, wie sie der Abgeordnete Rudolf Körper in der orientierenden Debatte des Bundestages zum Patientenverfügungsgesetz am 29. März 2007 richtig erkennt:
„Die Befürworter einer Einschränkung der Verfügungsmacht des Patienten argumentieren mit einem angeblichen Spannungsverhältnis zwischen der freien Entscheidung des Bürgers und seinem – angeblich – objektiv bestimmbaren Wohl. Oder sie berufen sich auf eine Pflicht des Staates zum Lebensschutz. Ich möchte hier nicht diskutieren, ob der Staat im Wege des Gesetzes gegen den freien Willen des Betroffenen körperliche Eingriffe mit dem Ziel des Lebensschutzes ermöglichen darf. Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zu einer derartigen Vorgabe besteht mit Sicherheit nicht. Also müssen wir das Ergebnis dieser Meinung politisch bewerten: Diejenigen, die sich selbst zum Schützer fremden Lebens ernannt haben, kommen im Ergebnis dazu, die Freiheit der Bürger aus Fürsorgegründen in einem zentralen Kernbereich der Selbstbestimmung einzuschränken. Sie begründen dies mit dem angeblich „objektiv“ bestimmbaren Wohl der Betroffenen. Ich weiß nicht, woher sie den Maßstab dieses „objektiven“ Wohls hernehmen wollen. Das menschliche „Wohl“ ist aus meiner Sicht im Gegenteil eine sehr subjektive Angelegenheit. Die angebliche „Objektivität“ des Wohls wird dadurch erzeugt, dass der Maßstab des Betroffenen durch den eigenen Maßstab ersetzt wird. Ich halte dies für nicht verantwortbar. Wir Abgeordneten des Deutschen Bundestages sollten uns im Gegenteil damit bescheiden, den Bürgerinnen und Bürgern den Rahmen für eine – mögliche – Entscheidung zur Verfügung zu stellen. Wir können und sollten nicht anstelle der Bürger entscheiden wollen…“[61]
Diese Position, dass Wille vor Wohl geht bzw. dass das Wohl durch den Willen der jeweils Betroffenen bestimmt wird, ist die Frage, die Libertäre von Doktrinären scharf trennt. Sie scheidet einen Herrschaftsanspruch der Vernunft von den Menschenrechten. Mit der Entscheidung des Bundestages am 18.6.2009 für den Gesetzesentwurf des Abgeordneten Stünker wurde sich deutlich und parteiübergreifend darauf geeinigt, dem Patientenwillen und damit der Selbstbestimmung in jeder Lebenslage und entgegen jedem ärztlichen und staatlichen Paternalismus unabhängig von „Art und Stadium einer Erkrankung“ Geltung zu verschaffen. Damit wurde bestätigt, dass das Prinzip des „informed consent“ im Bereich der Psychiatrie ebenso gilt wie in jedem anderen Bereich der Medizin. Ärztliche Behandlung und Untersuchung/Diagnose darf nur mit informierter Zustimmung der/des Betroffenen erfolgen. Daher kann psychiatrische „Zwangs“- Untersuchung und – Behandlung eigentlich nur noch bei Menschen erfolgen, die daran glauben, dass es „psychische Krankheiten“ gibt und dass sie dadurch „einwilligungsunfähig“ werden können und die sich unter diesen Umständen auch psychiatrisch diagnostizieren sowie gegebenenfalls zwangspsychiatrisch behandeln lassen wollen. Diese Menschen sollten eine Vorausverfügung verfassen, in der sie „positiv“ für diese Situation psychiatrische „Zwangs“- Maßnahmen an sich selber zustimmen.[62] Somit sind die im Kapitel „Psychiatrischer Zwang und seine rechtlichen Grundlagen“ angeführten psychiatrischen Zwangsgesetze endgültig hinfällig bzw. es bedarf einer grundlegenden Reform, bei der jegliche Elemente gestrichen werden, welche die Ausübung von Zwang und Gewalt (jenseits einer ‚positiven psychiatrischen Vorausverfügung‘) erlauben. So lange dies nicht der Fall ist, d.h. alle Widersprüchlichkeiten beseitigt sind, müssen sich alle, die sicher gehen möchten, dass ihr Selbstbestimmungsrecht auch im Bereich der Psychiatrie unangetastet bleibt, mit der PatVerfü behelfen.
[61] Rede von Fritz Rudolf Körper zum Thema „Patientenverfügung“ am 29. März 2007 im Deutschen Bundestag, 16. Wahlperiode, Sitzungsnummer 91. Auszug aus dem Plenar-Protokoll des Deutschen Bundestages, siehe Seite 9282: http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/16/16091.pdf
[62] Einen Mustervorschlag solch eine „positive psychiatrische Vorausverfügung“ finden Sie im Internet unter: www.antipsychiatrie.de/io_08/positivestestament.htm